Man kann schon ein bisschen seekrank werden. Der Blick von der Brücke der "Kerberos" fällt auf den den grauen Himmel und den wogenden Nordatlantik. Es kommt einem so vor, als würde sich der Boden unter den Füßen im Takt mit den Wellen bewegen.
Aber: Außer der Brücke ist nichts davon echt. Himmel und Meer sind eine Projektion auf einer 7-Meter-hohen, 55-Meter-langen und um 270-Grad-gebogenen LED-Wand. Im Zentrum dieses Dreiviertelkreises steht auf einem Podest das Filmset der "Kerberos".LED-Wand und Kulisse befinden sich in einer riesigen Studiohalle. Willkommen im Dark BayVirtual Production Studio auf dem Gelände des Studio Babelsberg in Potsdam.
Neues Projekt des "Dark"-Kreativteams
"Am Anfang war den Schauspielern vielleicht ein bisschen schwummerig, aber schlecht ist keinem geworden", erzählt lachend Philipp Klausing, einer der Geschäftsführer der Betreibergesellschaft Dark Bay. Klausing ist, neben Baran bo Odar und Jantje Friese, nicht nur Teil des Führungsteams von Dark Bay, sondern auch der Produktionsfirma Dark Ways. Deren Serie "1899" ist die erste, die in dem virtuellen Studio vor den Toren von Berlin gedreht wird.
Die Serie mit Mystery- und Thriller-Elementen, die für den Streamingdienst Netflix produziert wird, handelt von einer Gruppe von Migranten aus ganz Europa, die sich Ende des 19. Jahrhunderts an Bord der "Kerberos" mit dem Wunsch nach einer besseren Zukunft auf den Weg in die USA machen.
Während Klausings Name nur Spezialisten etwas sagen dürfte, haben die beiden anderen Dark-Bay-Köpfe bereits eine leidenschaftliche Fanbase unter Serienfans: Friese und Odar sinddie Macher der ersten deutschen Netflix-Serie "Dark". Von dem Paar, das als "Showrunner" auch bei "1899" die Fäden in der Hand hält, kam die Idee, ihr neues Projekt in einem virtuellen Studio zu verwirklichen.
Not macht erfinderisch
Einerseits lag der Gedanke nah: Die Arbeit an "1899" sollte im Frühjahr 2020 starten - genau zu Beginn der Corona-Pandemie. Verschiedene Drehorte in Europa zu besuchen, war für unbestimmte Zeit nicht möglich. Das machte als Alternative eine auf eine LED-Wand projizierte Landschaften attraktiv.
Andererseits wurde die Technik erst ein einziges Mal verwendet:beim Dreh der US-Serie "The Mandalorian", produziert vom Unterhaltungsriesen Disney. In Europa sind die Macher von "1899" Pioniere.
"Man muss schon im virtuellen Studio stehen um zu verstehen, was geht und was nicht. Das ist ganz neu und ein ganz anderes Drehen", sagt Baran bo Odar bei einem Gespräch auf der Brücke, während hinter ihm der virtuelle Atlantik wogt. Er führt bei allen achtFolgen der ersten Staffel von "1899" Regie und war von der Arbeit im "Volume", so die Bezeichnung fürvirtuelleStudios, positiv überrascht. "Es ist fast erschreckend, wie gut es funktioniert."
Ob raue See oder spanische Steinwüste - was auf der LED-Wand zu sehen ist, wird von der "Brainbar" aus gesteuert. In der Kommandozentrale, die in der hinteren Ecke der weitläufigen Studiohalle aufgebaut ist, sitzt ein Team von 13 Technikern vor einer Vielzahl an Computern. Braucht der Regisseur zum Beispiel mehr oder weniger Bewegung im Atlantik, werden die Männer und Frauen hier aktiv.
Allein fürs Meer "gibt es sieben Einstellungen: Wellengröße, Schnelligkeit und so weiter", erläutert Jack Banks, einer der Techniker, das Verfahren. So einfach, wie beim Fernsehervon einem Programm zum nächsten umzuschalten, ist es allerdings nicht. Jeder Einstellungswechsel dauert 15 bis 20 Minuten.
"Das ist schon geil"
Jantje Friese, die leitende Autorin der Serie, sagt, dass die Arbeit im virtuellen Studio auch Learning by Doing ist: "Unser Wissen, das wir nach der Hälfte der Drehzeit haben, nimmt schon jetzt Einfluss." Denn mittlerweile wisse sie:"Was kann ich schreiben?Was geht?"
So kann sie sich beispielsweise eine Szene in einem riesengroßer Maschinenraum mit 20 Dampfkesseln ausdenken, ohne die Produktionskosten zu sprengen: "Kein Problem." Auch der kann digital auf die riesige LED-Wand gezaubert werden.
"Ich muss mich nicht klein halten, um im Budget zu bleiben" - der Traum einer jeden Autorin. Friese ist sichtlich begeistert:"Erzählerisch kann ich jeden Raum aufmachen, den ich will, das ist schon geil."
Vor einer Kulisse drehen, die in Wirklichkeit gar nicht da ist - gibt es das nicht schon längst mit dem "Green Screen", wo große Teile des Studios grün ausgekleidet sind und dann elektronisch durch eine virtuelle Kulisse ersetzt werden? Doch es gibt einige entscheidende Unterschiede. Der sichtbarste: Mit einem Green Screen würden die Schauspieler während der Dreharbeiten quasi in einem Vakuum arbeiten, könnten nicht auf die Umgebung reagieren.
Die Marlene-Dietrich-Halle auf dem Studio-Babelsberg-Gelände wäre nur genau das:eine riesige, fensterlose Halle mit einem Schiffsset in der Mitte und einer grünen Wand dahinter. Kein Ozean, der so echt unendliche Perspektive vermittelt, dass das Gefühl entsteht, man könnte hineinfallen. "Es hilft ihnen sehr, dass es wie echt ist," sagt Regisseur Odar über seine Schauspieler. "Sie finden das toll."
Größere Authentizität als mit digitaler Nachbearbeitung
Darüber hinaus hat das Studio mit LED-Wand aber noch ganz andere, technische Vorteile gegenüber einem Green Screen. Ein Beispiel: Regen, der nach Bedarf aus Düsen an der Studiodecke kommt. So regnet es in einer Schlechtwetterszene auf die Schauspieler, wenn sie auf dem Deck des Schiffes stehen, und hört auch nicht auf, wenn sie die Brücke betreten. Der Regen prasselt dann von außen gegen die Scheibe, Zuschauer sehen später den Atlantik durchs regennasse Fenster.
Bei einem Green Screen dagegen muss die Kamera "freie Sicht" haben, sonst ist das digitale Einfügen des Hintergrunds in der Postproduktion nicht möglich. Tropfen auf einer Scheibe wären ein No-Go, meist ist nicht mal Glas im Rahmen, wenn ein Green Screen durch ein Fenster gefilmt wird. Der Regen und die Fensterscheibe, die er hinunterläuft, müssten also ebenfalls im Nachhinein digital hinzugefügt werden.
Das Gleiche gilt für Lichteinfall. Von der riesigen LED-Wand scheinen "Sonnenstrahlen", oder in diesem Fall das diesige Licht eines grauen Tages auf See, in den Innenbereich der Brücke, so, wie das auch draußen in der realen Welt der Fall wäre.
Das Licht wirft Schatten, wenn der Kapitän, gespielt von "Dark"-Darsteller Andreas Pietschmann, beim Überdenken einer wichtigen Entscheidung auf der Brücke hin und her läuft. Für Zuschauer eine Selbstverständlichkeit, aber mit einem green screen gäbe es diesen natürlichen Lichteinfall nicht. Er müsste später digital kreiert werden.
"Wie Licht sich auf einem Kleidungsstück bricht, wie ein nasser Boden Licht reflektiert: All das kann man einfangen", sagt Produzent Klausing. "Das gibt dem Ganzen die Authentizität."
Kein Warten auf den perfektenSonnenuntergang mehr
Am meisten Authentizität gäbe es natürlich in der freien Natur. Aber ein Schiffsset in einem riesigen Wassertank aufzubauen ist ein erheblicher Aufwand, und die Reisen, die für die Rückblenden aus den Herkunftsländern der Migranten nötig gewesen wären, konnten wegen Corona nicht stattfinden.
Die Arbeit imvirtuellen Studio bringt außerdem die Unabhängigkeit vom Tageslicht mit sich. Nik Summerer, Chefkameramann bei "1899", berichtet, dass das Team den ganzen Vormittag an der Szene mit Pietschmann auf der Brücke gedreht hat, die in der Serie nur wenige Minuten dauern wird.
Draußen, in der "echten Welt", hätten sie da vor einem Problem gestanden: "Das wären normalerweise vier verschiedene Lichtstimmungen gewesen." Im virtuellen Studio herrscht so lange Morgendämmerung oder Mittagssonne, wie der Regisseur es sich wünscht.
Die Vorteile, die die neue Technologie für Filmteams bringt, sind nicht von der Hand zu weisen, auch wenn ein bisschen alter Filmzauber so vielleicht verloren gehen mag. Nun müssen man nicht mehr auf den perfekten Sonnenuntergang warten, sagt Produktionsdesigner Udo Kramer. "Diesen Sternenstaub, den man vorher nur ganz selten bekam, diese magischen Momente, wird man jetzt häufiger in Film und Serien sehen."